Das EuGH-Urteil zur Arbeitszeiterfassung und seine Bedeutung
Sebastian Wertmüller, 18.06.2019
der Plan
• Ausgangslage
• das Urteil
• Reaktionen und Folgen
• Arbeitszeiterfassung heute
• Perspektive
ein Urteil mit Folgen…
• obwohl die Entscheidung einen Betrieb in Spanien betrifft, von grundsätzlicher Bedeutung für Gesamteuropa
• Stellenwert europäischer Rechtsprechung wird sichtbar – EuGH wirkt
• Chancen einer europäischen Sozialstaats- und Arbeitsschutzpolitik
Ausgangslage
• 2,13 Mrd. Überstunden 2017 in Deutschland
• neuer Höchststand
• rechnerisch entspricht das 1,29 Millionen Vollzeitstellen
• gegenüber 2007 Zunahme um 12,8 %
• 1,07 Mrd. Überstunden bezahlt (= 50,26 %)
• 1,06 Mrd. Überstunden (= 49,74 %)
Quelle: Antwort der Bundesregierung auf Kleine Anfrage der Linken „Überstunden in Deutschland“ 19/05174, Datenbasis IAB-Arbeitszeitberechnung
• Einsparung: Unternehmen sparen 36,2 Mrd. Euro durch unbezahlte Überstunden
Quelle: bei 34,20 je Stunde lt. Stat. Bundesamt in 2017
• Beschäftigte arbeiten im Schnitt vier Überstunden pro Woche
• mehr als ein Viertel (28 %) häufig von Pausenausfällen betroffen, bei jüngeren eschäftigten (bis 29 Jahre) sogar 31 % betroffen
• Gründe: „zu viel Arbeit“ (63 %), „passt nicht in Arbeitsablauf“ (63 %)
Quelle: BAuA (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin)
• nur ein Viertel (26 %) verzichtet freiwillig auf Pause bzw. spart für früheren Feierabend (14 %)
BAuA 2018
• betriebliche Gründe für Überstunden nehmen zu (80 % in 2017, 76 % in 2015)
• Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Belastungen nehmen massiv zu: von 47,9 Millionen AU-Tage 2007 auf 109,2 Millionen AU-Tage 2016, das sind 130 %
Quelle: BT-Drucksache 19/3895, Krankenkassenverbände und BAuA
das Urteil
• EuGH-Urteil vom 14.Mai 2019: Auflage der spanischen Arbeitsaufsichtsbehörde für Deutsche Bank Spanien: Einführung System zur Arbeitszeiterfassung
• wg. Nichteinführung Sanktion gegen die Bank
• vom obersten spanischen Gericht (Tribunal Supremo) abgelehnt
• anderes hohes Gericht (Audiencia Nacional) anderer Ansicht
• dieses legt die Frage dem EuGH vor, ob das Europarecht das Erfassen der regelmäßigen Arbeitszeit gebietet – das hat der EuGH am 14.05. bestätigt
• geklagt hatte die spanische Gewerkschaft Comisiones Obreras (CCOO)
deren Thesen:
• nur wenn die gesamte Arbeitszeit erfasst werde, könne auch die Zahl der Überstunden korrekt erfasst werden
• und: 53,7 % der Überstunden würden in Spanien nicht erfasst Entscheidungsgründe des EuGH:
• Europäische Grundrechtecharta: „Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub.“ Art. 31 Abs. 2
aus der Europäischen Arbeitszeitrichtlinie:
• diese fordert in mehreren Artikeln, dass die Mitgliedsstaaten die „erforderlichen Maßnahmen“ zu treffen haben, um die Einhaltung der werktäglichen und wöchentlichen Ruhezeiten sowie der wöchentlichen Höchstarbeitszeit sicherzustellen
• EuGH betont besonderen Stellenwert der Arbeitszeitrichtlinie: nach ständiger Rechtsprechung handelt es sich um „besonders wichtige Regeln des Sozialrechts der Union“
Reaktionen und Folgen
• Arbeitgeber: „gegen die generelle Wiedereinführung der Stechuhr“, „ist beispielsweise die Vertrauensarbeitszeit praktisch tot“
• Lindner, FDP: „ein bürokratisches Monstrum“
• Wirtschaftsminister Altmaier: will Urteil nicht umsetzen, gegen Stechuhr, gegen „überbordende Bürokratie“, holt Rechtsgutachten ein
• DGB: Urteil „schiebt der Flatrate-Arbeit einen Riegel vor“, „Arbeitszeit ist in Europa keine dokumentations- und kontrollfreie Zone mehr“ (ver.di), unbezahlte Überstunden kommen „einem Lohn- und Zeitdiebstahl gleich“ (IGM)
• Arbeitgeber: wollen tägliche Höchstarbeitszeit auf wöchentliche Basis umstellen; Verweis auf Europäische Arbeitszeitrichtlinie, die 48 Stunden vorsieht
• Rechtslage tatsächlich: Deutsches Recht ist europagerecht zu interpretieren
• außerdem Verpflichtung der Mitgliedsstaaten durch EuGH, ein System einzurichten, mit dem die geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann (Gesetzgeber gefragt)
Rechtslage Deutschland zurzeit
• werktägliche Arbeitszeit darf 8 Stunden pro Tag nicht überschreiten; kann bis zu 10 Stunden ausgedehnt werden; innerhalb von sechs Monaten muss Ausgleich sein, damit es 8 Std. im Durchschnitt sind
• Arbeitszeitgesetz § 16 Abs.2 S.1: „Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die über die werktägliche Arbeitszeit des § 3 Satz 1 hinausgehende Arbeitszeit der Arbeitnehmer aufzuzeichnen (…)
• Mehrarbeit und Überstunden nicht dasselbe: Mehrarbeit ist Arbeit, die zusätzlich zur gesetzlichen Regelarbeitszeit von acht Stunden geleistet wird
• Überstunden, das ist die Arbeitszeit, die über die vertraglich vereinbarte hinausgeht – egal, was für ein Arbeitsverhältnis
• Arbeitnehmer dürfen Mo bis Sa je acht Stunden arbeiten – max. 48 Stunden pro Woche im Durchschnitt
• bei einer normalen 40-Stunden-Arbeitswoche sind bis zu acht Stunden Mehrarbeit also durchaus zulässig
Arbeitszeiterfassung – technisch
• Beschäftigte*r dokumentiert selbst: händische Tabelle, elektronisch: App fürs Mobiltelefon
• Arbeitgeber erfasst: Stempeluhr, Chipkarte, Datenarmband, App, GPS-Ortung, biometrische Lösungen
Arbeitszeiterfassung – Probleme
es gibt kein Problem mit der Erfassung – flexibel, ortsunabhängig und differenziert, aber:
• Datenschutz
• Bewegungsbilder
• Dauerüberwachung
• Vertrauensarbeitszeit
• ein reines Arbeitgeberproblem
• was ist eigentlich bezahlte Arbeit?
• Telefonat nach Feierabend?
• E-Mails durchblättern vor Dienstbeginn?
• dienstliche Reisen
Perspektive
• es geht nicht um die Stechuhr, es geht um die Bezahlung von Arbeit
• kann großer Fortschritt für Arbeitnehmer*innen werden
• gesetzliche Umsetzung: Auftrag an die Bundesregierung
• politische Auseinandersetzung notwendig:
Hubertus Heil will, Altmaier verweigert
• Arbeitgeber wollen Arbeitszeitgesetz verändern
• jetzt über Arbeitszeit, Entgrenzung, Flexibilität, Homeoffice, „Vertrauensarbeitszeit“ diskutieren
Fangen wir an!