Arbeiterbewegung von Rechts? Thesen zum gewerkschaftlichen Antifaschismus, Vortrag 23.09.2024

2024-09-23 Vortrag Arbeiterbewegung von Rechts 01: Arbeiterbewegung von Rechts? Thesen zum gewerkschaftlichen Antifaschismus, Vortrag 23.09.2024

Arbeiterbewegung von Rechts! (Stichworte Vortrag, 23.09.2024)

vorneweg: bin kein Historiker und kein Soziologe, eher ein aufmerksamer Beobachter meiner Zeit
vieles, was jetzt kommt, sind Überlegungen und offene Fragen – sie sollen auch zum Nachdenken und zur Diskussion anregen

Blick in die Geschichte

Arbeiterbewegung verbindet sich üblicherweise mit den großen politischen Bewegungen der Sozialdemokratie, des Kommunismus, des Anarchismus, der christlichen Soziallehre
damit verbunden sind fortschrittliche, emanzipatorische Werte wie:

  • Solidarität
  • Gleichheit (insbes. sozial)
  • Gleichberechtigung
  • Internationalismus
  • Wahlrecht
  • Freiheit

es gab aber schon immer auch starke rechte Tendenzen in der organisierten Arbeiterbewegung – nationalistisch, rassistisch, antidemokratisch

  • US-Gewerkschaften wie Teamster (International Brotherhood of Teamsters), erst LKW-Fahrer, dann Transportarbeiter
  • rechte Gewerkschaften in der Weimarer Republik (z.B. DHV)
  • autoritäre Staatsgewerkschaften
  • Deutsche Arbeitsfront

in Westdeutschland Bruch mit politischen Richtungsgewerkschaften nach dem II. Weltkrieg und dem Aufbau der Einheitsgewerkschaft mit dem DGB als Dachverband – als Lehre aus dem Faschismus
aber dennoch auch

  • schwieriges Verhältnis zur Einwanderung (illegale Beschäftigung am Bau, Aufforderung zur Meldung bei Polizei, Umgang mit EU-Osterweiterung)
  • teilweise sehr konservative Gewerkschaften jenseits des DGB (CGB, DPolG u.a.)
    • Wohlstandschauvinismus: individueller und nationale Wohlstand wird gegen Ansprüche von außen – Schutz- und Asylsuchende, Arbeitnehmer*innen aus anderen Nationen, die in vermeintlicher Unterbietungskonkurrenz auf dem Arbeitsmarkt auftreten – verteidigt
    • Standortnationalismus: neoliberale Globalisierung führt zu Verstärkung nationalistischer Orientierungen in einem Ordnungsschema von Hierarchisierung und Abwertung; mit Aufwertung der wettbewerbspolitisch überlegenen Nation erfolgt die Herabsetzung der anderen
    • Entfesselung der Konkurrenz (Neodarwinismus): Neoliberalismus: sozialer Konflikt wird als Kampf von Volksgruppen und Ethnien eingeordnet – eine gleichsam naturalistische Umdeutung von Interessenkonflikten

Stand der Dinge

falsche – weil unzureichende – Fokussierung auf rechtsextreme Gewerkschaften (‚Zentrum‘, früher Zentrum Automobil)
hohes rechtsextremes Wahlverhalten im Deutschland – das findet sich auch in den Betrieben wieder
hohes rechtsextremes Wahlverhalten (überproportional) in Thüringen bei

  • Berufstätigen
  • Arbeitern
  • Selbständigen
  • Gewerkschaftsmitgliedern

und in Sachsen bei

  • Berufstätigen
  • Arbeitern
  • Gewerkschaftsmitgliedern

Tendenz nicht neu – Gewerkschaftsmitglieder wählen überproportional die SPD, die Linke und die AfD

Gründe unterschiedlich:

  • mehr Männer
  • eher jünger
  • Modernisierungsverlierer
  • Angst vor Verlusten
  • Rollenkonflikte in Folge von Gleichberechtigung

blinder Fleck des Antifaschismus:

  • rechtsextreme Parteien (wie die AfD) verfolgen objektiv politische Ziele, die nicht im Interesse der abhängig Beschäftigten sind:
    • Steuerpolitik
    • Sozialpolitik
    • Wirtschaftspolitik
  • Gewerkschaften klären darüber auf – seit Jahren und Jahrzehnten
  • nur die Beschäftigten beeindruckt das eher nicht!

These:

  • Gewerkschafter/innen wählen rechtsextreme Parteien nicht „aus Versehen“ (weil sie das Programm nicht gelesen oder nicht verstanden haben), sondern mit Gründen
  • so wollen das wählen, was sie gewählt haben – Rassismus, Demokratiefeindlichkeit, Russlandverklärung, gegen Klimaschutz und gegen Feminismus, Europafeindlichkeit usw.

wo stehen die Gewerkschaften?

  • Kundgebungen und Proteste gegen rechtsextreme Aufmärsche und Veranstaltungen bzw. ein Teil von Bündnissen gegen Rechtsextremismus
  • gegen rechtsextremes Gedankengut: Flugblätter, Plakate, Aufkleber, Buttons, CDs, Broschüren, Flyer, Artikel, Pressemeldungen…
  • Erinnerungsarbeit: Gedenktage wie 27. Januar, den 8. Mai, den 9. November, Gedenkstätten
  • bundesweite Kampagnen: doppelte Staatsbürgerschaft, kommunales Ausländerwahlrecht, Aufstehen gegen Rassismus…
  • Kampf gegen Rechtsextremismus Teil der Bildungsarbeit

Antifaschismus ohne Erfolg

  • klassischer gewerkschaftlicher Antifaschismus erkennbar nicht erfolgreich: rechte Wahlergebnisse und Meinungsumfrage belegen zunehmende Rechtsentwicklung
  • erfolgreicher Protest gegen rechtextreme Aktivitäten erreicht weite Teile der Arbeiterschaft nicht und wirkt dort nicht
  • in der vielbeschworenen ‚Mitte der Gesellschaft‘ wird die Zukunft der liberalen Demokratie entschieden – dort bestimmt der Kampf gegen Rechts die Diskurse nicht, die Hetze gegen die ‚irreguläre Migration‘ aber schon

was es zukünftig braucht:

Voraussetzungen:

Präsenz von Rechtsextremen in den Betrieben ist das neue Normal

das wird sich auch kurzfristig nicht ändern

vermieden werden muss, dass diese Szene die Betriebsräte, Personalräte und die Vertrauensleute ‚kapert‘

  • Professionalisierung der Arbeit in den Betrieben (Ehren- wie Hauptamtliche)
    • rechte Kader isolieren
    • migrantische, queere Kollegen/innen etc. schützen
    • demokratische Hegemonie im Betrieb erhalten
  • dazu nötig:
    • erkennen
    • analysieren
    • Schritte planen

günstige Voraussetzungen als Gewerkschaften

  • betrieblich bewegen wir uns auch dort, wo andere Diskurse schon längst nicht mehr greifen (etablierte Medien, etablierte Politik etc.)
  • das Schutzinteresse (individuell und kollektiv) bringt auch überzeugte Rechtsextreme und zum Teil auch echte Nazis dazu, bei demokratischen Gewerkschaften zu bleiben
  • der Betrieb ist unser ureigenstes Territorium, wir haben Zugänge, wir haben Sachkunde, wir sind kompetent und bieten Lösungen

Risiken

  • demokratische Gewerkschaften entpolitisieren sich immer weiter
  • der gewerkschaftliche Dienstleistungsauftrag (Beraten, Unterstützen, Begleiten) tritt immer mehr in den Vordergrund, der gesellschaftliche und historische Auftrag wird hintangestellt
  • Angst vor möglichen Mitgliederverlusten bei klarer Positionierung lähm
  • im rechten Mainstream werden Gewerkschaften als Teil der Gesellschaft tendenziell immer konservativen und verlieren ihre emanzipatorische Kraft und Funktion

Entscheidend ist es, wie die soziale Basis der Gewerkschaften sich positioniert.

Sebastian Wertmüller