Erzählungen aus Kolyma
Im Nordosten Russlands liegt Kolyma, eine riesige Region benannt nach dem gleichnamigen Fluss. Zugleich ist Kolyma der Begriff für eine ganze Anzahl von Arbeitslagern aus der Zeit der Sowjetunion, die z.T. bis 1987 bestanden.
Und: „Erzählungen aus Kolyma“ ist der Titel einer ganzen Reihe Erzählungen von Warlam Tichonowitsch Schalamow (oder auch Varlam Šalamov, wie er in der Osteuropaforschung geschrieben wird). Sie machen, veröffentlicht in vier Bänden bei Matthes & Seitz, Berlin sein Hauptwerk aus.
Und jetzt hat Verlag dieses Jahr etwas sehr Verdienstvolles getan: Er hat eine Auswahl der Erzählungen als Taschenbuch herausgegeben, was den ersten Zugang zu Schalamows Werk deutlich vereinfacht. Warlam Schalamow, Franziska Thun-Hohenstein (Hg.): Erzählungen aus Kolyma, Eine Auswahl, 270 Seiten, Broschur, Übersetzung: Gabriele Leupold, Preis: 16,00 €, bei Matthes & Seitz
Eine gute und preisgünstige Gelegenheit, diesen beeindruckenden Schriftsteller kennenzulernen!

Schalamows Leben
Warlam Schalamow wurde 1907 im nordrussischen Wologda geboren. Ab 1924 studierte er in Moskau und stand der sog. Linken Opposition (Gruppen in der KPdSU im ideologischen Gegensatz zum Stalinismus) nahe. 1929 wurde er zu drei Jahren Lagerhaft in Wischera im Ural verurteilt. 1937 wurde er ein zweites Mal verhaftet, wegen „antisowjetischer Propaganda“ (Artikel 58 des Strafgesetzbuches der RSFSR) zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt und ins SewWostLag an der Kolyma überstellt. Im Lager wurde Schalamow zu einer neuen Haftstrafe verurteilt und verbrachte insgesamt sechzehn Jahre in Kolyma: Vierzehn Jahre in Haft und zwei weitere nach seiner Freilassung.
Literatur
1954 begann Schalamow heimlich seine „Erzählungen aus Kolyma“ zu schreiben. 1956 durfte er nach Moskau zurückkehren. Am 18. Juni 1956 wurde er in Bezug auf die Anklage von 1937 rehabilitiert. Anfang der 70er Jahre beendete er die Arbeit an den „Erzählungen aus Kolyma“, das Manuskript schmuggelte er in die Bundesrepublik. Dort und in Frankreich erschienen seine Erzählungen 1971 auf Deutsch und Französisch. Schalamow starb 1982 in einer Nervenheilanstalt in Moskau. Nach dem Ende der Sowjetunion wurde er im Jahr 2000 auch in Bezug auf die Anklage von 1929 postum rehabilitiert.

Was ist so beeindruckend an Schalamow und seinen Erzählungen aus dem GULAG:
- Zum einen gibt es gar nicht so viel bekanntere Literatur aus dem sowjetischen Lagersystem. Viele kennen zumindest dem Namen nach den Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn (u.a. „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“, „Der Archipel Gulag“). Schon weniger bekannt sind Jewgenia Ginsburg („Marschroute eines Lebens“) und Georgi Demidow („Fone Kwas oder Der Idiot“, „Zwei Staatsanwälte“). Literatur des 20.Jahrhunderts aus Osteuropa, aus der Sowjetunion, aus Russland wurde und wird zwar ins Deutsche übersetzt, ist aber nur dann wirklich erfolgreich, wenn sie gut in aktuelle Debatten und Entwicklungen passt, weniger, wenn sie einfach nur literarisch interessant ist.
- Zum anderen gibt es auch nicht so viele Bücher über das Lagersystem der Sowjetunion, insbesondere kaum Überblicksdarstellungen. Das bedeutet nicht, dass es dazu nichts gibt, vieles aber ist Fachliteratur, vieles sind Aufsätze zu bestimmten Details.
Das ist auffällig, immerhin waren in den Lagern des Gulag zwischen 1930 und 1953 etwas 18 Millionen Menschen inhaftiert, von denen etwa 2,7 Millionen direkt im Lager oder in der Verbannung starben.
Möglichweise spielt da in Westdeutschland jahrzehntelange antikommunistische Propaganda eine Rolle, die weniger zur wissenschaftlichen Erkenntnis und mehr zur undifferenzierten Dämonisierung beigetragen hat. *
Schon vor diesem Hintergrund – der gigantischen Dimension des Lagersystems und der überschaubaren Literaturliste für ‚Normalleser/innen‘ – bedeutet jedes weitere Stück Literatur einen Zugewinn an Erkenntnis über das große Grauen des Stalinismus.
Und dann kommt etwas anderes dazu: Schalamow war ein genialischer Schriftsteller! Seine „Erzählungen aus Kolyma“ (insgesamt vier Bände) sind überwiegend kurz, geschrieben mit einer knappen und präzisen Sprache, beobachtend und ohne erkennbare persönliche emotionale Teilnahme. Sie beschreiben das Lagerleben in allen seinen Facetten: Transport, Verlust der Außenkontakte, verschiedene Lagertypen, Formen der Arbeit, Kälte, Essen, Schlafen, Waschen, Kleidung, Gesundheit, Krankheit, Tod, Kriminelle und Politische, Gewalt durch Aufseher, Gewalt durch Mithäftlinge, Strafen, willkürliche Verlängerung der Haftzeiten, Verbannung und viele andere Facetten, die das Überleben und Sterben im Lagesystem ausgezeichnet haben.
Die Erzählungen Schalamows rücken aber verstörend in Erinnerung, dass die Gesellschaft der Sowjetunion von einer unglaublichen Geschichte der Gewalt, des Terrors, des Kriegs und der Vernichtung geprägt ist: Die gewalttätige Gründungsgeschichte von Revolution und Konterrevolution, Hungersnöte, Kulakenverfolgung und Holodomor in der Ukraine 1932/33 (sechs bis acht Millionen Toten), Vernichtungskrieges der Wehrmacht mit seinen Millionen Opfern, stalinistische Verfolgung (nach Historikerschätzungen mindestens drei Millionen durch Exekutionen, durch Tod im Gulag, bei Zwangsdeportationen).

Diese jahrzehntelange Gewaltgeschichte seit 1917 und die finsteren Zeiten davor mit ihren Hungersnöten, Bauernaufständen und Pogromen müssen in einer Gesellschaft, die nur sehr kurzzeitig andere, hoffnungsvollere Erfahrungen machen konnte (Tauwetter, Entspannungspolitik, Wende), ihre Spuren in autoritären und gewaltförmigen Strukturen hinterlassen. Das mag auch einige der Gewaltexzesse im Rahmen der russischen Aggressionen gegen die Ukraine erklären.
Zu Schalamows Lebzeiten wurden nur Gedichte von ihm veröffentlicht. Eine Entdeckung seiner großen Werke, insbesondere der Erzählungen aus Kolyma hat er nicht erlebt. 1982 starb er, arm, krank und verwirrt unter schlimmen Umständen.
Aber jetzt gibt es die Erzählungen und weitere Werke bei Matthes & Seitz, seine Briefe sind erschienen, 2022 ist eine umfangreiche Biografie erschienen und schon 2013 gab es einen Sammelband mit zahlreichen Abbildungen (Wilfried F. Schoeller, Leben oder Schreiben. Der Erzähler Warlam Schalamow, Berlin 2013.)
Aber um zum Ausgangspunkt zurückzukommen: Jetzt gibt es eine erschwingliche Taschenbuchausgabe mit einer Auswahl von Erzählungen aus Kolyma. Besser kann man 16 Euro kaum anlegen, wenn man etwas über die Welt, über die Gewalt und das (Über)Leben, über das Schreiben und das Verstehen wissen und verstehen will.
»Wer so schreibt wie er, hat humanistische Ideen nicht nur nicht verraten, er rettet sie.« – Ilma Rakusa, Neue Zürcher Zeitung
*Die solideste Gesamtdarstellung des Gulag, die ich gefunden habe, ist erst 1996 erschienen: Ralf Stettner, „Archipel GULag“: Stalins Zwangsarbeitslager, Paderborn 1996. Und da wird das Defizit an Gesamtdarstellungen schon im Klappentext erwähnt.
